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Er gehört der Welt und Menschheit:
Kant-Denkmal vor der Albertina in Königsberg.
Foto: Archiv |
So gibt mir der Anblick eines bestirnten Himmels, bei einer
heitern Nacht, eine Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen
empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der
Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen
Geistes eine unnennbare Sprache.
Es muß wohl in einer jener klaren, kalten, typisch ostpreußischen
Winternächte gewesen sein, damals, vor zweieinhalb Jahrhunderten,
auf dem Rittergut derer von Hülsen, in Groß-Arnsdorf,
unweit der Hauptstadt: Wie immer, wenn der Himmel von Wolken unverhüllt
war, zog es den jungen Immanuel Kant hinaus ins Freie. Immer aufs
neue staunende Blicke warf er hinauf zum Firmament, voller Begeisterung
und in dem stolzen Wissen, daß er diese strahlende Pracht
dort oben durchschaute, daß er wußte, was sich hinter
den funkelnden Lichtpunkten verbarg.
In wenigen Monaten würde er nach Königsberg zurückkehren,
in seine Heimatstadt, wo ihn Jahre zuvor sein Lehrer Martin Knutzen
durch ein Teleskop hatte blicken lassen. Seither sollte der Universalgelehrte,
der in seinem langen, fast achtzigjährigen Leben sich nahezu
allen Wissenschaften zuwandte, einer stets die Treue halten: der
Astronomie, genauer, der Kosmologie.
In jenem Winter 1753, als Kant sich nach sechsjähriger Privatlehrerzeit
von der Provinz und ihrem so klaren Sternenhimmel zu verabschieden
begann, hatte er gerade ein umfangreiches Manuskript fertiggestellt,
mit dem Titel Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Wieder
einmal überwältigt von dem himmlischen Schauspiel (und
wohl auch von seinen eigenen kühnen Gedanken), beschloß
er, sich mit dieser Schrift um einen Lehrstuhl an der Albertina
zu bewerben und diesem Unterfangen Nachdruck zu verleihen,
indem er das Manuskript dem König im fernen Berlin widmete.
Doch der Plan stand unter keinem guten Stern. Der Verleger Johann
Friedrich Petersen, der Kants Erstlingswerk zum Druck annahm, ging
ein Jahr später pleite. Und Friedrich II. war zu der Zeit mit
wichtigeren Dingen beschäftigt. Er wollte nicht den Himmel
erobern, sondern durchaus Irdisches. Für den Waffengang gegen
Österreich, Rußland und Frankreich brauchte er gutgerüstete
Soldaten; an Kosmologen, Philosophen und Astronomen bestand kein
dringender Bedarf. So gilbte die Theorie des Himmels im versiegelten
Lager des bankrotten Verlegers vor sich hin naturwissenschaftliche
Weltliteratur unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Bis 1770 mußte Kant auf die ersehnte Ordentliche Professur
an der Königsberger Universität warten. Und als er am
12. Februar 1804, zwei Monate vor dem 80. Geburtstag, in seiner
Geburtsstadt verstarb, war sein astronomisch-kosmologisches Frühwerk
vollends in Vergessenheit geraten. Dafür hatte er sich Weltruhm
erworben mit Werken wie der Kritik der reinen Vernunft, Kritik
der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft.
Schon 14 Jahre nach seinem Tod feiert das siebenbändige Conversations-Lexicon
oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete
Stände (Stuttgart, 1818) den größten Sohn Königsbergs
so:
Kant (Immanuel), geboren zu Königsberg den 22sten April
1724, wo er anfangs Theologie studirte, später als akademischer
Lehrer (1755) auftrat, seit 1770 als Professor der Logik lebte,
und bis zu seinem Tode (12. Febr. 1804) in dem Dienste der Wahrheit
unablässig wirksam war. Sieht man aber auf die Art und Größe
seiner Wirksamkeit, mit welcher er in dem Gebiete des philosophischen
Wissens eine heilsame Revolution bewirkt, und durch sie allen folgenden
Denkern den freieren Weg zur Wahrheit gebahnt hat; sieht man ferner
auf das ausgebreitete Wissen und die Mannichfaltigkeit der Kenntnisse,
welche sein Geist umfaßte, und endlich auf den Ernst seines
sittlichen Charakters, mit welchem sich bei ihm die heiterste Geselligkeit
verband, so dürfen wir mit Recht behaupten: er gehörte
der Welt und Menschheit an. Kant war ein an Leib und Seele ganz
trockener Mann. Magerer, ja dürrer, als sein kleiner Körper
hat vielleicht nie einer existirt; kälter, reiner in sich abgeschlossen,
wohl nie ein Weiser gelebt. Eine hohe, heitere Stirn, seine Nase
und helle, klare Augen, zeichneten sein Gesicht vortheilhaft aus.
Aber der untere Theil desselben war dagegen auch der vollkommenste
Ausdruck grober Sinnlichkeit, die sich bei ihm besonders im Essen
und Trinken übermäßig zeigte. Er war ein angenehmer
Gesellschafter, der durch ausgebreitete Belesenheit, auch einen
unerschöpflichen Vorrath von unterhaltenden Anekdoten, die
er ganz trocken erzählte, und durch echten Humor jede Gesellschaft
aufheiterte. Kants Gesellschaft wurde um so mehr von den angesehensten
Familien gesucht, da er sich durch die vollkommenste Rechtlichkeit
und durch den echten Stolz, der ihm als einem der tiefsten Denker,
die je die Menschheit geehrt haben, wohl anstand, überall in
hoher Achtung zu erhalten wußte, auch im Äußern
sehr stattlich erschien. Er liebte auch das Kartenspiel, und brachte
nicht gern einen Abend ohne seine kleine LHombre-Parthie zu.
Es folgt eine seitenlange Würdigung seines philosophischen
und erkenntnistheoretischen Gedankengebäudes. Kants kosmologische
Erkenntnisse hingegen werden in dem Beitrag mit keinem einzigen
Wort erwähnt.
Daran sollte sich für die nächsten hundert Jahre nichts
ändern. Kant wurde als der große deutsche Denker verehrt,
erstaunlicherweise auch von vielen Menschen, die nie eines seiner
Werke gelesen haben (und, hätten sie es versucht, seinen komplizierten
Gedankengängen wohl auch kaum hätten folgen können
die Kritik der reinen Vernunft zählt nun einmal
nicht gerade zu den Bestsellern der Unterhaltungsliteratur).
Im Jahre 1924, 120 Jahre nach Kants Tod, geschah dann etwas, das
mit Königsberg und seinem großen Philosophen nichts zu
tun zu haben schien: Dem amerikanischen Astronomen Edwin P. Hubble
gelang es erstmals, die Entfernung des Andromeda-Nebels zu bestimmen,
etwa eine Million Lichtjahre. Später zeigte sich, daß
es sogar 2,2 Millionen Lichtjahre sind (das heißt, ein Lichtstrahl
braucht von dort bis zu uns Erdenmenschen 2,2 Millionen Jahre).
Damit stand fest: der kleine verschwommene Flecken am Firmament
ist keineswegs ein Sternenhaufen am Rande unserer Galaxie, der Milchstraße,
sondern selber eine Galaxie, mit Milliarden von Sonnen und Planeten.
Fest stand auch: Immanuel Kant hatte recht, als er, in der Mitte
des 18. Jahrhunderts, die von ihm wahrgenommenen Erscheinungen als
ferne Welteninseln interpretierte.
Doch es sollte noch einmal ein halbes Jahrhundert vergehen, bis
Kant, der größte Philosoph Ostpreußens, auch als
einer der größten Kosmologen der weltweiten Wissenschaftsgeschichte
Anerkennung fand. 1965 hatten zwei Amerikaner, Arno Penzias und
Robert Wilson, eher zufällig die kosmische Hintergrundstrahlung
entdeckt, das Echo des Urknalls, aus dem vor 14 Milliarden Jahren
das Universum entstanden war. Vor einigen Jahren enthüllte
der Forschungssatellit COBE unscheinbare, aber höchst bedeutungsvolle
Ungleichheiten in dieser Strahlung. Das war der Schlüssel zum
Verständnis, wie aus der superheißen und superdichten
Ursuppe stets gleiche Strukturen wie der Verbund von Erde und Mond,
unser Sonnensystem mit seinen Planeten, schließlich Sternhaufen,
Galaxien, Galaxienhaufen, vielleicht gar unendlich viele Universen
entstanden.
Sensationelle Neuigkeiten? Sensationell ja, aber keineswegs neu.
Erinnern wir uns an jenen jungen Privatlehrer in der ostpreußischen
Provinz, der sich vor 250 Jahren gleichermaßen für den
prachtvollen Sternenhimmel über ihm und sein gerade fertiges
Manuskript daheim in der Schublade begeisterte. Zu recht, wie wir
heute wissen: In diesem Werk stand schon alles drin, was heutige
Astronomen mit gigantischem Aufwand experimentell bestätigen:
Die Welt ist, von den kleinsten, subatomaren Strukturen der Materie
bis zu den unendlichen Weiten der Universen, nach einer immer gleichen
Ordnung aufgebaut, immerwährende Folge eines schier unglaublichen
Schöpfungsaktes.
Kant brauchte weder Computer noch Satelliten, er brauchte nur seinen
Verstand, um zum geistigen Vorläufer sowohl des Fraktal- und
Chaos-Papstes Benoit Mandelbrot als auch des Kosmologen
Stephen Hawkings zu werden (heute in Cambridge Inhaber des Lukasischen
Lehrstuhls des von ihm so sehr verehrten Isaac Newton). So ist er
nicht nur der größte Denker Königsbergs er
ist einer der größten Geister der Menschheit. Und die
kosmologischen Theorien seines Frühwerks sind für ihn
bis zu seinem Tode Quelle und Richtschnur seiner gesamten philosophischen
und moralischen Gedankenwelt geblieben. Folgerichtig knüpfte
seine Kritik der praktischen Vernunft da an, wo seine Theorie
des Himmels fünfzig Jahre vorher begonnen hatte:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über
mir und das moralische Gesetz in mir.
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