Seit 1588 hatten alle Professoren der am 17. August
1544 von Herzog Albrecht gestifteten Universität das Privileg,
an der Nordwand des Doms in einer offenen Arkadenhalle beigesetzt
zu werden angesichts ihrer Wirkungsstätte, des den Domhof
längs des Pregels begrenzenden Albertinums. Dieses Privileg
ging zurück auf eine Schenkung des Professors D.U.J. Paul Krüger
von 1587.
So wurde auch Immanuel Kant in dieser Halle am 28.
Februar 1804 dem Schoß der Erde übergeben, sechzehn Tage
nach seinem Tode, während derer der treue Ehregott Andreas
Christian Wasianski die Leiche im ehemaligen Eßzimmer seines
Hauses Prinzessinstraße 2 den Mitbürgern zur letzten
andächtigen Schau freigegeben hatte.
Von den wahrhaft großartigen Begräbnisfeierlichkeiten,
die der überragenden Bedeutung Kants entsprachen, soll hier
nicht die Rede sein, nur sei erwähnt, daß der schöne
Sarg vergoldete Griffe in Gestalt geringelter Schlangen und zwei
ovale Platten hatte: die eine trug die Aufschrift:
Cineres mortales immortalis Kantii,
die andere:
Orbi datus d. XXII. Aprilis 1724 ereptus d. XII.
Febr. 1804.
Gemäß der Polizeiverordnung, niemanden
mehr innerhalb der Stadtmauern zu begraben, wurde bald nach Kants
Begräbnis das Professorengewölbe geschlossen.
Schon fünf Jahre nach seiner Beisetzung ließ
indes Kants Freund und Tischgenosse, Kriegsrat Joh. George Scheffner,
über dem Professorengewölbe einen 135 Fuß langen
und 15 Fuß breiten Wandelgang, ausgelegt mit Ziegeln, bauen
und mit einem einfachen Ziegeldach decken. über dem Haupteingang
außen ließ er in großen Lettern die Worte "Stoa
Kantiana" anbringen, innen aber das von ihm und Süvern
gedichtete Distichon:
"Hier, von den Geistern umschwebt, ehrwürdiger
Geister der Vorzeit Sinne, daß, Jüngling, auch dich rühme
noch spätes Geschlecht!"
Die schmale Ostseite dieser Stoa wurde durch ein
Gitter kapellenartig abgegrenzt, über Kants Grab ein Sandsteinblock
gesetzt mit der Inschrift: "Sepulcrum Immanuelis Kant"
und auf ihn die im Besitz der Universität befindliche, von
dem Schadowschüler Carl Gottfried Hagemann 1801 modellierte,
von Schadow selbst aus carrarischem Marmor ausgehauene Büste
Kants gestellt.
Diese Freundestat Scheffners fand überall Anerkennung
und Würdigung, doch schon bald nach seinem Tode (1820) begann
der Verfall. 1825 war die Stoa "in greulichem Zustand des Schmutzes",
und der Boden sank ein.
Der Jurist Robert v. Mohl besuchte sie 1844; er
schrieb: "Die sogenannte Stoa war ein feuchtes verfallenes
Stück von einem Kreuzgange."
Schließlich war der Zerfall derart vorgeschritten,
daß die Halle 1880 abgebrochen werden mußte und eine
viel kürzere neugotische verputzte Kapelle an ihrer Stelle
erbaut wurde.
Bei dieser Gelegenheit entschloß man sich,
Kants Gebeine aus dem Massengrab des Professorengewölbes herauszunehmen,
da die Gefahr bestand, daß sie später nicht mehr würden
identifiziert werden können. Ein "Komitee", an dessen
Spitze der Oberlehrer am Altstädtischen Gymnasium Carl Witt
stand, unternahm in den Tagen vom 22. bis 24. Juni 1880 die Ausgrabung,
deren Leitung der Maler und Professor an der Kunstakademie Johannes
Heydeck, der bereits eine Reihe Ausgrabungen für die Altertumsgesellschaft
Prussia durchgeführt hatte, übernahm.
Ein genaues Protokoll wurde geführt. Anwesend
waren: 1. Oberlehrer Carl Witt, 2. Professor Dr. J. Walter, Nachfolger
Kants auf seinem Lehrstuhl, 3. Kantforscher Dr. Emil Arnoldt, 4.
Dr. Rudolf Reicke, Custos an der Kgl. u. Universitätsbibliothek,
5. August Wittich, Archivassistent und Stadtbibliothekar, 6. C.
Schmidt, Particulier, 7. Hermann Th. Hoffmann, Stadtkämmerer,
8. Prof. Johannes Heydeck, 9. Dr. C. Kupffer, Professor der Anatomie,
10. Professor Albrecht, Prosektor, 11. Bildhauer Eckhardt, 12. der
kürzlich pensionierte Direktor der Kunstakademie, Professor
Ludwig Rosenfelder, 13. Baumeister Hueter, 14. Cand. med. F. Bessel-Hagen.
Man eröffnete die an der östlichen Wand
gelegenen Gräber. Dabei kam es zu den ersten Schwierigkeiten.
Die grabenden Arbeiter fanden Tierknochen von Rindern, Hasen und
Fischwirbel, aber auch vereinzelte Menschenknochen, jedoch keine
Sargüberreste. Wahrscheinlich handelte es sich um Schutt, den
man zum Füllen eines bereits 1825 im Boden der Stoa entstandenen
Loches benutzt hatte.
Nun hob Professor Heydeck eigenhändig die Grube
aus. Die anderen sahen gespannt zu. Nicht lange dauerte es, so legte
sein Spaten ein Schädeldach frei. Etwas weiter nördlich
fand er die Bruchstücke der Platte "Cineres mortales".
Die andere Inschriftplatte war nicht zu entdecken.
Mit der größten Behutsamkeit grub Heydeck
weiter. Unterhalb der Plattenbruchstücke fand er ein schlecht
erhaltenes Skelett. Zu ihm paßte das vorher gefundene Schädeldach.
Unzweifelhaft war es das Skelett eines alten Mannes.
Aber war es das Kants oder das des begrabenen Professors der Theologie
Johann Ernst Schulz? Denn von diesem, ihrem Großvater, behauptete
ein noch lebendes 76jähriges Fräulein Ernestine Castell,
er sei zur Rechten Kants beerdigt worden.
Deshalb grub Heydeck dort weiter, während die
anderen Männer in atemlosem Schweigen zuschauten.
Von den Särgen war nichts mehr vorhanden, doch
fand er an der vermuteten Stelle die mit dickem Rost bedeckten Sarggriffe
mit schwachen Resten einstiger Vergoldung; von geringelter Schlangenform
war indes nichts zu bemerken.
Da stieß Heydecks Spaten in der Tiefe der
Grube auf ein zweites Skelett. Auch die Handgriffe seines verschwundenen
Sarges lagen, stark verrostet, am richtigen Orte. Vorsichtig legten
Heydeck und seine Helfer auch dieses Skelett frei; es war ebenfalls
das eines alten Mannes und dem ersten an Gestalt und Größe
ähnlich, aber besser erhalten. Die genaue Untersuchung der
einzelnen Knochen ergab, daß dieses zweite Skelett das Kants
war. Es hatte die von den beiden Kantbiographen Borowski und Jachmann
bezeugte höhere rechte Schulter, besonders aber glich der Schädel
dem von Dr. Kelch 1804 abgeformten Gipsabdruck von Kants Schädel.
Damit waren die Gebeine Kants einwandfrei ermittelt.
Der Stukkateur Meycke nahm einen Gipsabguß
des Schädels und des Unterkiefers ab, und der Fotograf Rosenow
machte Aufnahmen vom Schädel von fünf verschiedenen Seiten
her in einem Drittel der natürlichen Größe.
In der Folgezeit hatte man an der Ostseite des Gewölbes
die Gruft ausgemauert und die Metallsärge fertiggestellt. Die
Aktenstücke über die Ausgrabung, auf Hanfpapier geschrieben
und zusammengerollt, wurden in eine Glasröhre eingeschmolzen
und am Totensonntag, 21. November 1880, in eine Falte des weißseidenen
Bahrtuches gelegt, nachdem die Gebeine des größten Königsbergers
in richtiger Ordnung in einem Zinksarg bestattet worden waren. Unter
Aufsicht von Baumeister Hueter wurde dieser verlötet, in einen
zweiten Metallsarg eingeschoben und vorsichtig in die gemauerte
Gruft herabgelassen.
Durch große Steinplatten wurde die Gruft verschlossen,
der Grabstein Scheffners darüber gelegt und eine Kopie der
Büste Hagemanns von Siemering über ihm aufgestellt (das
Original war schon seit 1820 im Auditorium maximum des Alten Albertinums,
ab 1862 aber im Senatszimmer der Stülerschen Universität
aufgestellt worden). Die Gebeine des Professors Schulz waren wieder
dort beigesetzt worden, wo man sie gefunden hatte.
Die drei Aktenstücke über die Ausgrabung
wurden im Stadtarchiv Königsberg niedergelegt. Bei der Zerstörung
Königsbergs am 29./20. August 1944 durch englische Geschwader
sind sie mit dem gesamten Archiv vernichtet worden.
Die Ausgrabungsszene verewigte der Hauptbeteiligte,
Professor Heydeck, in einer Kreidezeichnung. Diese ist längst
verschollen, doch wurde nach ihr auf Beschluß des Komitees
ein Kupferstich angefertigt. Von diesem hatte sich bis zur Vernichtung
Königsbergs ein einziges Stück im Kantzimmer des Stadtgeschichtlichen
Museums im Kneiphöfischen Rathaus erhalten. Doch beim englischen
Fliegerangriff ging er, wie alle unersetzlichen Kantandenken und
Museumsschätze, in Flammen und Rauch auf. Selbst Reproduktionen
sind kaum aufzutreiben.
Die neugebaute Kantkapelle nennt der Provinzialkonservator
Dr. Dethlefsen 1912 "einen kleinen grauen herzlich unbedeutenden
Bau in gotisierenden Formen; sie verdient die Erwähnung nur
um des großen Toten willen"! Sie wurde nur an Kants Geburts-
und Todestag, mit Blumen geschmückt, der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht.
Beim Eintritt erblickte man links vom Eingange in
dem mit schwarzweißen Fliesen getäfelten Flur den Denkstein
Scheffners, dahinter auf einem Sockel die Siemeringsche Kopie der
Hagemannschen Büste. Die Wandfläche dahinter zeigte Emil
Neides grau in grau auf Leinwand gemalte Kopie von Rafaels Schule
von Athen. Die Kantbüste stand gerade zwischen Platon und Aristoteles.
Von der gegenüberliegenden Wand grüßten die Worte
der "Praktischen Vernunft": "Der gestirnte Himmel
über mir und das moralische Gesetz in mir."
Zum 200. Geburtstage Kants brach man diese seiner
nicht würdige und auch schon baufällig gewordene Kapelle
ab und schrieb einen reichsoffenen Wettbewerb für ein würdiges
Ehrenmal aus, doch alle Entwürfe befriedigten nicht. Eine zweite
Ausschreibung nahm einstimmig den Entwurf des Königsberger
Akademieprofessors der Architektur Friedrich Lahrs an; auf Kosten
von Hugo Stinnes wuchs eine großlinige hohe würdevolle
Ehrenhalle auf zwölf mächtigen Pfeilern aus rotem Rochlitzer
Porphyr an der Nordwand des Domes hinauf, an dessen Hinterwand eine
Erztafel nur mit den zwei Worten "Immanuel Kant" hing,
unter der der mächtige Sarkophag aus schwarzem Granit steht
ein Kenotaphion; denn die Gebeine des großen Königsbergers
hat man gelassen, wo sie waren, und nicht wieder zu berühren
gewagt. Kunstvolle Bronzegitter verbanden die Pfeiler. Der Künstler
dieses würdevollen Baues hat mit den hohen Pfeilern wohl den
Flug der hohen Gedanken, mit dem granitenen Sarkophag die Wucht
der Maxime Kants versinnbildlichen wollen.
Und heute?
Wohl als das einzige erhaltene Kunstwerk der Innenstadt
hat das Ehrenmal Kants den Zweiten Weltkrieg überstanden; es
ist, als hätten selbst die entfesselten Elemente sich gescheut,
diese heilige Stätte anzugreifen.
Herbert M. Mühlpfordt ()
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